MARY CATELLI
Der Stein des Lebens
»Die Rote Zitadelle, ja, wirklich!«, rief Richard und starrte die grauen Felsen empor, die sich da über ihnen scharf gegen den strahlend blauen Himmel abzeichneten. »Möchte wissen, wo die ihren Namen herhaben!«
Jonathan holte tief Luft und stieg zu dem anderen Ritter auf den Felssims. »Der Herr der Roten Zitadelle dürfte jedem Ort den Lebenssaft nehmen!«, sagte er, straffte die Schultern und musterte den schmalen Pfad, den sie hochstiegen. Die Felswand war so kahl wie eine Wüste, nicht einmal ein loser Stein war zu sehen. »Der Hexer muss doch hier irgendwo sein!«
Richard warf ihm einen Blick zu. »Wir nähern uns seiner Burg … und sollten also vorsichtig sein: Hier dürfte er doch am mächtigsten sein«, erklärte er und fuhr dann langsamer fort: »Vielleicht sollten wir auch umkehren, dem Orden melden, dass wir ihn beim Sammeln verbotener Kräuter überrascht haben.«
»Wir haben ihn schon verwundet«, erinnerte Jonathan ihn und stieg weiter bergan, »und den größten Teil der Magie verbraucht, die er vorbereitet hatte. Wir dürfen ihm keine Zeit lassen, sie aufzufrischen …« Er schlug einen schroffen Ton an: »Meister Frederick würde sich ja für dich schämen! Die Grundregel für den Kampf gegen einen Hexer lautet, immer daran zu denken, dass er, um einen Schlag zu führen, länger braucht als du.«
Richard zog eine Grimasse, folgte ihm aber. »Vor allem musst du danach trachten, ihn zu besiegen, mit welchem Mittel auch immer. Wenn wir hier sterben, wird niemand erfahren, was der Hexer im Sinn hatte.«
Jonathan stieg zügig weiter. Da schloss Richard sich seufzend an. »Du wirst uns beide eines Tages noch umbringen«, knurrte er.
Schweigend, um sich den Atem fürs Klettern zu sparen, gingen die jungen Ritter weiter. Eine scharfe Brise blies die Wand herauf. Jonathan sah nach unten, zog angesichts der Höhe die Stirn kraus. Dann richtete er sein Augenmerk wieder auf den Weg voraus, mussten sie bei dem Hexer doch mit allem rechnen. Sie hatten verhindern können, dass er diese Todesbeere bekam, hinter der er so sehr her gewesen war – aber die hatte er ja vielleicht nur für einen ganz bestimmten Zauber benötigt.
Er sah nach vorne. Die Zitadelle war nicht mehr weit, genau davor war wohl ein Absatz, ein schmales Band flachen Bodens. So versuchte er auszumachen, ob der Zauberer da irgendwelche Überraschungen für sie bereithielt.
»Ihr Narren!« Da ragte er plötzlich vor ihnen aus der Wand – wild flatternd das weiße Haar und der weiße Bart, rot glühend und flammend die Augen und die Zähne gebleckt. Und in seinen Händen glitzerte etwas Rotes, Dunkles, ganz wie ein Schwert.
Also zog Jonathan blank und griff an! Die scharlachrote Robe des Hexers war noch voller Blutflecken, und der Mann selbst bewegte sich so steif. Jäh hob Jonathan die Klinge, parierte den Hieb des Hexers. Da erklang ein herber, unirdischer Ton. Ein Blick nach seinem Schwert – es war noch heil … aber er musste aufpassen, dass der Zauber nicht sein Fleisch erfasste!
Neben sich sah er Richards Klinge blitzen, da sprang er mit einem Satz zur Seite, hoch auf den Absatz. Der Hexer fauchte und wich zurück, gestikulierte mit den Händen – zu rasch für das menschliche Auge. Da sah Jonathan etwas vor sich in der Luft flimmern. Er streckte die freie Hand danach aus … und stieß gegen eine spiegelglatte Glaswand.
Der Hexer lachte, dass sein magerer Leib nur so bebte. »Kommt doch herüber zu mir, ihr Ritter! Was euch im Wege steht, ist nur Glas!«
Jonathan trat einen Schritt zurück, blickte sich suchend um, aber auch hier lag nirgends ein Stein … Und Richard stellte sich zu ihm, das Schwert noch in der Hand, aber resignierter Miene. »Wir müssen umkehren«, flüsterte er.
So hob Jonathan sein Schwert, um es einzustecken. Hier brauchte es in der Tat Verstärkung von ihren Ordensbrüdern.
Der Hexer lachte und höhnte weiter. »Ihr Narren! Ihr Narren! Den Herrn der Roten Zitadelle herauszufordern!«
Da sah Jonathan, dass sich an der Wand hinter dem Hexer etwas bewegte … unweit einer kleinen Tür … Stirnrunzelnd spähte er hinüber. Und der Schuft, dem das nicht entging, hörte auf zu lachen, sah über die Schulter zurück … und setzte jetzt ein so hässliches Lächeln auf, dass die beiden Ritter einander erstaunt ansahen und wieder ihn anstarrten. Und um ihr Leben gern gewusst hätten, was er im Sinn hatte …
Dort an der Burgmauer kauerte eine bleiche, magere Frau. Und der Hexer legte ihr blitzschnell eine Hand auf die Schulter, säuselte: »Wie gerufen kommst du!«, und zerrte sie nach vorn. Und sie starrte mit ihren braunen Augen durch diese Glaswand die Ritter an, verzog dabei aber keine Miene. Der Hexer zog einen trüb roten Edelstein aus der Tasche und hielt ihn hoch, sodass er im Sonnenschein glitzerte. »Seht, was ihr mit eurer Großtat, mich zu verwunden, anrichtet!«, rief er und senkte den Stein gegen die Frau. Und sie erbebte, versuchte aber nicht, sich ihm zu entziehen. Er legte ihn ihr auf die Schulter, schloss die Hand darüber. »Seht an, was mein Lebensstein für mich tut, ihr Narren!«
Ein so stetig wie ein Herz pulsierendes, rotes Licht leuchtete zwischen seinen Fingern hindurch. Jonathan tat unwillkürlich einen Schritt vor. Blut sickerte durch das dünne Gewand der Frau. Sie schauderte, sie schloss ihre Augen. Der Lebensstein glühte und glühte, und da stieg das Blut aus dem Tuch zu dem Steine auf.
Voll Entsetzen verfolgten die beiden Ritter das. Und Richard rückte näher zu Jonathan und drängte: »Wir müssen den Orden alarmieren, jemanden holen, der mit ihm fertig wird!«
Jonathan aber konnte weder einen Finger rühren noch sprechen, noch auch nur den Blick abwenden. Minuten vergingen so – der Hexer hatte seine Wunde bereits wieder geschlossen, zog aber seine Hand nicht zurück. Seine Wangen wurden rosig rot, alle Erschöpfung wich aus seinem Gesicht. Die Frau erschlaffte da zusehends – doch er, er stützte sie nicht, nahm nicht einmal die Hand von ihrer Schulter, als sie dann in die Knie brach. Mit weit offenen Augen lag sie da, starrte die jungen Männer leeren Blicks an …
Jonathan wurde bewusst, wie rau und flach da sein Atem ging. Er starrte auf die Lichtreflexe der Glaswand – die einzigen Zeichen ihres Vorhandenseins – und holte tief Luft, ganz auf die eine und einzige Regel konzentriert, an die er sich noch erinnern konnte: »Gehe geradewegs und ohne Zögern durch ein zerbrochenes Fenster, und du wirst dich nicht schneiden.« Er versammelte sich denn und …
»Was tust du, Jonathan?«, flüsterte Richard, mit einem Blick auf die Frau. »Wir müssen verschwinden, um Hilfe zu holen.«
»Vertraue mir!«, sagte Jonathan durch unbewegte Lippen, holte noch einmal tief Luft und rannte los – eine Sekunde vor dem Aufprall schloss er die Augen.
Mit einem gewaltigen Knall barst die Wand rings um ihn. Die Glassplitter regneten herab und klirrten, spritzten ihm ins Gesicht, auf Wehr und Panzer. Aber er spürte keinen Schmerz, als er vornüberfiel, und als er die Augen öffnete, all die Scherben um sich sah, sprang er hoch und dankte Gott für die Rüstung, die ihn vor mehr als Schwerthieben schützte.
Da stieß Richard einen Kampfruf aus, kam herbeigestürzt. Die Frau, blass wie Bein und Knochen, rührte sich nicht, und der Hexer starrte sie leeren Blicks an … So griff Jonathan nach seinem Schwert.
Und der Zauberer ließ den Lebensstein fallen und fing an zu brabbeln. Da kamen die Ritter schon über ihn, und sie ließen die Klingen sausen – die gingen ihm durch die Robe, tief ins Fleisch. Blut sprang ihm aus den Armen, doch nicht bevor er den letzten Bann gesprochen hatte …
Das Tor flog auf, heraus trat eine gewappnete Gestalt, die mit knirschenden Gelenken auf sie zu kam. Da blieb Jonathan bei der Frau stehen: Richard hatte Recht, sie wussten ja wirklich nicht, was ihrer in der Burg harrte, und mussten ihren Orden alarmieren. Und da der Hexer zurückwich, bückte Jonathan sich nach dem Lebensstein, hob ihn auf – was auch geschähe, den bekäme der Schuft nicht wieder … Schnell schob er den Stein in die Tasche und fasste die Frau unter.
»Lass uns gehen, Richard!«, sagte er dann und spähte den Berg hinab – die Kampfgestalt stellte sich schützend vor den Hexer, griff aber nicht an.
Da nickte Richard, steckte sein Schwert ein und sagte: »Ich trage sie, decke du uns den Rücken!«
Der Hexer hinkte in die Zitadelle. Und die Frau schien nicht einmal wahrzunehmen, dass Richard sie jetzt auf eine Schulter nahm und sich an den Abstieg machte. So vergrub Jonathan den Stein noch tiefer in seiner Tasche und folgte den beiden als wachsame Nachhut.
Jonathan lehnte an der getünchten Krankenzimmerwand und ließ den Blick nervös durch den Raum huschen. Richard, der neben ihm stand, schien ebenso angespannt. Der Grund ihrer Unruhe, Selina, Herrin der Greifenburg, saß, in ihrer gelbsilbernen Robe mit den Symbolen ihres Rangs, ernst am Krankenlager und wartete, dass die Doktorin Althea mit ihrer so lilienbleichen Patientin endlich fertig würde …
»Du heißt Perle und wurdest von den beiden hier aus der Hand des Hexers der Roten Zitadelle befreit?«, fragte sie dann mit allem Ernst.
Die Bettlägrige nickte schwach.
Da beugte Selina sich vor. »Unser Orden hat das Ziel, diesem Land Recht und Gerechtigkeit zu bringen. Ich möchte, dass du uns über den Hexer erzählst und schilderst, was für eine Art Mann er ist. «
»Er ist sehr bösartig«, erwiderte Perle und verstummte dann. Eine Minute später hatte sie wieder die Kraft fortzufahren: »Er hat so etwas, einen Lebensstein …« Sie machte eine vage Geste. »Der lenkt Lebenssaft von einem Menschen zum anderen. Damit saugt er die Burgleute zu Tode.« Ihr Blick wanderte zu Jonathan, zu Richard. »Und er benutzt ihn nicht nur, wenn er verwundet ist, sondern auch, um sich jung zu halten.« Wieder verstummte sie … ließ aber ihren Blick auf dem jungen Mann ruhen. »Ich habe dich gesehen.«
Jonathan trat unruhig von einem Bein auf das andere. Und sie nahm wieder alle Kraft zusammen. »Ich sah dich, und da wusste ich, dass einer von seinem Tun erfahren musste. So kam ich aus der Burg. Ich wusste, dass er der Versuchung nicht widerstehen könnte, auf der Stelle Heilung zu suchen.«
Jonathan musterte Richard von der Seite – sein Freund sah so bleich und schockiert aus wie er selbst.
Sogar Selina wirkte etwas bleicher. »Ich danke dir«, schloss sie förmlich. »Deine Tat soll nicht vergeblich gewesen sein. Wir werden diesen Bösewicht aus unseren Landen vertreiben.« Damit erhob sie sich. »Der Herr der Roten Zitadelle hat sein letztes Opfer gehabt, das schwöre ich dir!«
Perle nickte und schloss erschöpft die Augen. Nun warf Selina den jungen Männern einen Blick zu und ging hinaus … Und die beiden folgten ihr.
Althea kam ihnen bis zur Tür nach. »Äh … Frau Selina?«
Die Angesprochene drehte sich um, legte den Kopf schief.
»Das letzte Opfer«, sagte Althea, mit gesenkter Stimme, »das könnte hier liegen. Ich glaube nicht, dass sie mit dem Leben davonkommt. «
Jonathan schwankte, suchte an der Wand Halt. Selina musterte ihn und Richard scharf. »Hört, wir werden die Rote Zitadelle jetzt sofort angreifen, bevor ihr euch ausgeruht habt … Ihr werdet also nicht mit dabei sein können.«
Jonathan verneigte sich gehorsam.
»So esst etwas und ruht euch aus«, sprach die Herrin von Burg Greifenstein und rauschte abrupt in Richtung Rüstkammer ab.
Die beiden Ritter sahen einander an. »In die Küche?«, schlug der eine vor, und der andere nickte, und da machten sie sich auch schon auf den Weg.
Ein halbes Dutzend Ritter saß noch um den Tisch … beim aus dienstlichen Gründen verspäteten Essen. Man nickte ihnen zu, als sie Platz nahmen, und murmelten etwas über ihre Taten … Die Gerüchte sind uns vorausgeeilt!, dachte Jonathan, schnitt sich eine Scheibe Brot ab und bestrich sie dick mit Butter.
Da kam ein rundlicher, gelehrter Ritter herein – Timothy mit Namen – und setzte sich zu ihnen. »Es heißt, ihr habt etwas von der Roten Zitadelle mitgebracht«, begann er und hob die Hände. »Den Lebensstein?«
»Todesstein wäre der passendere Name!«, knurrte Jonathan, bei dem Gedanken an Perle, droben im Krankenzimmer. »Ein wahres Teufelszeug!«
Entsetzt über so viel Unwissenheit, sah Timothy ihn an. »Das ist nichts Diabolisches … nichts Dämonisches war an seiner Entstehung beteiligt. Er ist auch nicht eigentlich böse.«
Da knallte Jonathan das Brot auf den Tisch. »Das ist unmöglich!«, protestierte er. »Zu welchen guten Zwecken könnte er genutzt werden?«
Timothy sah beschämt drein. »Ich weiß nicht«, sagte er, ganz vorsichtig, und legte Fingerspitzen auf Fingerspitzen. »Aber mein Test ergab keinen Hinweis auf schwarze Magie.«
»Ruhig Blut, Jonathan«, mahnte Richard und wandte sich – als der die Schultern fallen ließ und nickte – Timothy zu. »Der Hexer hat uns besiegt.« Er verzog den Mund. »Kann sein, dass Frau Selina ihn besiegt, aber er hat uns besiegt. Die Frau, die wir retten wollten, liegt da im Sterben. Der Lebensstein ist ihr Tod.«
Timothy nickte, murmelte etwas davon, welche Tragödie solch ein Tod sei und wie schrecklich die erste Niederlage für den guten Ritter! Und Jonathan nahm sich etwas Suppe und starrte dann trübsinnig in seinen Teller. Perle lag im Sterben – all ihrer Mühe zum Trotz.
Er musste wieder an diesen Lebensstein denken. Ein Edelstein, der jemandem Lebenskraft aussog und sie jemand anderem gab! Da drehte er sich jäh zu Timothy um: »Was hast du sonst über den Stein in Erfahrung gebracht?« Der sah ganz erstaunt von seiner Suppe auf. »Bringt er sein Opfer zwangsläufig um?«
Timothy schüttelte den Kopf. »Nein, erst binnen Minuten … Er muss viel Lebenskraft nehmen, um zu töten.«
Jonathan nickte. Eine Minute später sprang er hastig auf und entschuldigte sich: Er müsse noch etwas erledigen – und ließ sich auch durch Richards neugierigen, erstaunten Blick nicht aufhalten, sondern machte, dass er in die Kammer kam, wo alle magischen Materialien verwahrt wurden, auch der Lebensstein, den er nun brauchte …
Da lag er, und er schimmerte im Fackelschein wieder so trüb, so rot … Und Jonathan holte tief Luft, nahm ihn schnell und eilte hinaus, zur Krankenstube. Ein Stein, um einem anderen Lebenskraft zu geben, ein Stein des Lebens, in der Tat.
Althea war nicht mehr da, als er eintrat. Perle schlief, ihr Gesicht war so reglos und bleich wie eine Lilie – und als er sich auf ihr Bett setzte, bewegte sie sich ein wenig, wachte aber nicht auf. Da nahm er ihre Linke, holte den Lebensstein heraus, legte ihn zwischen ihre Hand und seine Schulter. Und schon begann der Stein zu glühen.
Jonathan spürte einen messerscharfen Schmerz in der Schulter und biss sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien. Mit der freien Hand ergriff er ihre Rechte … »Noch tapferer, als ich dachte … das zu ertragen!«, sagte er und raunte beruhigend, als sie zu murmeln begann: »Keine Angst, gleich geht es dir besser.«
Und mit dem Pulsieren des Steines, das er qualvoll in allen Gliedmaßen spürte, bekam sie wieder rote Wangen, rührte sie sich und fragte verstört, was denn sei.
»Es ist alles gut«, versicherte Jonathan ihr, obwohl er sich schwach zu fühlen begann. Und sie öffnete zögernd die Augen, nahm den Anblick, der sich ihr bot, in sich auf … Allmählich begriff sie. Und sie schrie wild auf und riss die Hand von seiner Schulter, dass der Lebensstein herunterflog. »Was … was hast du dir dabei gedacht?«, fragte sie.
Und er ließ seine freie Hand aufs Bett fallen, um sich etwas zu stützen, ließ aber die ihre nicht los. Nun, da die Qualen vergangen waren, schien seine Auszehrung nicht so groß. Aber Perle hatte weiter eine gute Farbe. »Ich zählte darauf, dass du nur nimmst, was du brauchst, mir aber das Leben lässt.« Er lächelte. »Es war ja genug für uns beide da.« Nun gähnte er, sank neben ihr aufs Bett und schlief im Nu ein …
Sie musterte ihn besorgt. Aber seine Farbe war gut und seine Atmung tief und gleichmäßig. Da gähnte sie auch und schlief, noch Hand in Hand mit ihm, gleichfalls ein.